Weit, weit weg

Ich sah auf. Ein Schatten war auf unser Spiel gefallen. "Akana." stellte ich lächelnd fest und stand auf.

Akana setzte sich jedoch auf den Boden. "Du spielst mit Murmeln?", fragte er grinsend zu dem Mädchen hinauf.

Ich runzelte die Stirn. Sie dachten ich wäre in Gefahr? Als ein Mann näher kommen wollte, fauchte ich laut und zeigte ihm meine Zähne. Alle zuckte zusammen.

"Spielt ihr beiden mal..." meinte ich grinsend. "Ich sehe lieber zu."

"Ich kann so was gar nicht mehr.", gab Akana zu.

Ich wollte nicht gerettet werden. Ich wollte einfach in Ruhe gelassen werden. Ich machte es ihnen klar, indem ich auf sie zu sprang. Laut knurrend. Dabei achtete ich darauf, nicht zu nah an sie heran zuspringen.

"Dann bringe ich es dir eben bei." meinte ich grinsend und begann, ihm die Spielregeln zu erklären.

Sie wichen nur zurück. Ich hatte mir mehr erhofft. "Mandy, sei bei Vernunft. Komm mit uns, alle machen sich Sorgen um dich.", sprach der Mann weiter.

Akana lernte schnell, war aber nicht gut. "Ich verliere kläglich in einem alten Spiel."

Ich zuckte mit den Schultern. "Kann schon sein..." meinte ich grinsend und stand auf. "Übt noch etwas... ich gehe etwas spazieren..." Mit leichten Schritten ging ich in den Wald, zu 'meinem' Baum, wo ich mich hinlegte und einschlief.

"Sei nicht so hart zu mir?", flehte Akana und schnippte eine weitere Murmel.

Ich schüttelte den Kopf. Sie verstanden nicht. Ich hatte es nicht anders erwartet. "Nun?" Die Stimme des Mannes war fordernd. "Wir können auch anders.", sagte er, als ich erneut den Kopf schüttelte und Anstalten machte zu gehen.
Ein leises Geräusch drang zu meinen Ohren. Ich kannte es von den Safari, die ich mit meinem Vater unternommen hatte. Ein Blasrohr. Ach, wie originell. Ich duckte mich, als der Pfeil aus dem Rohr gepustet wurde. Ich wusste, dass sie in den Nacken zielten, so war es ein leichtes dem Pfeil zu entkommen. Dafür bohrte sich die Spitze in die Brust des Mannes.

Als ich wieder aufwachte, wusste ich nicht mehr, wo ich war. Ich wusste... nichts mehr. Nicht mehr meinen eigenen Namen. Mein Gedächtnis war so leer wie das eines neugeborenen Babys. Ich wusste auch nicht, was ich war und wo ich hingehörte. Langsam stand ich auf und sah an mir herunter. An einem normalen, durch und durch menschlichen Körper, ohne jegliche Merkmale einer Katze. "Wo muss ich hin?" flüsterte ich zu mir selbst. Dann ging ich los, kreuz und quer durch den Wald. Irgendwo würde ich schon etwas finden. An einem kleinen Weiher mit glasklarem Wasser, das wirkte wie ein Spiegel, blieb ich stehen und starrte hinein. Ein verwirrtes Gesicht blickte mir daraus entgegen. Ein Gesicht mit smaragdgrünen, großen runden Augen, die verwirrt blickten, ein Mund, vor Verzweiflung leicht verzogen und einer leicht vor Verwunderung gekrausten Nase, auf der lauter kleine Sommersprossen waren, genau wie auf den Wangen. "Wer bist du?" fragte ich das Spiegelbild. Und gleichzeitig fragte es ein Junge, der von den Häusern, die ich jetzt bemerkte gekommen war. "Ich weiß nicht, wer ich bin." antwortete ich und schüttelte meine roten, leicht gelockten Haare aus dem Gesicht. "Wer bist du?" "Simon." antwortete der Junge. "Komm mit mir... dieser Wald ist nicht sicher." Er streckte mir die Hand hin. Ich war froh, dass ich sie nehmen durfte. Froh, dass ich nicht mehr alleine meinen Weg suchen musste.

Ich verschwand, so schnell wie ich gekommen war. Sie konnten mir nicht folgen. Während des Rennens nahm ich die Form einer weißen Raubkatze an. Ich sprang hier und dort hin und versicherte mich, dass niemand mir zum Dorf gefolgt ist.
Ich entschloss mich dann ziemlich spontan, Ayashi aufzusuchen. Ich wollte endlich wissen, was mit mir los war und vielleicht wusste er eine Lösung. Und wenn nicht, so erhoffte ich mir, waren aufmunternde Worte für mich drin.

Ayashi blickte auf. Er hatte ein Rascheln im Gebüsch gehört. "Elune?" fragte er leise. "Elune, bist du das?"

Ich saß auf einem Stuhl, eine kleine, weiß-schwarz gestreifte Katze auf dem Schoß und streichelte sie. Um mich herum standen drei Männer unterschiedlichen Alters. Einmal Simon, der Junge, der mich gefunden hatte, er war 17 Jahre alt, dann Tobias, 21 Jahre, und schließlich der Vater des letztgenannten. Er war 40 Jahre. "Wer bist du?" fragte mich nun der Älteste der drei. "Man findet nicht einfach Menschen in diesen Wäldern." "Ich weiß nicht, wer ich bin. Wirklich." Ich sah ihn flehend an. "Bitte..." flüsterte ich. Tobias legte mir eine Hand auf die Schulter. "Vater..." meinte er zögernd. "Wir wissen nicht, wer sie ist. Aber lass sie hier wohnen... sie ist sehr verwirrt... Und falls es hier noch andere Menschen gibt, werden wir sie früher oder später schon noch finden." Ich sah ihn dankbar an. Sein Vater nickte. "Wie du meinst... auf deine Verantwortung, mein Sohn." Tobias nickte feierlich. "Natürlich, Vater." antwortete er. "Komm... es steht schon ein Zimmer für dich bereit..." sagte er dann sanft zu mir und führte ich in das Zimmer, in dem einst seine Schwester Mandy gewohnt hatte. Ich wusste nicht, dass er eine Schwester hatte. Er hatte es nicht erwähnt. Ich wusste noch nicht einmal, dass ich einen Bruder hatte. Oder einen Freund. Ich glaubte, dass ich ein ganz gewöhnlicher Mensch sei, der sich verlaufen hatte und jetzt endlich wieder Artgenossen gefunden hatte.

Ich blinzelte als ich seine Farben sah. Sie waren so grell. Als ich zu ihm ging wurde ich wieder zum 'Katzenmenschen'.

Ayashi sah sie an. "Ist etwas?" fragte er besorgt und strich ihr über die Wange.

Sie waren alle sehr nett zu mir. Zum Glück. Am Anfang hatte ich Angst gehabt. Doch jetzt nicht mehr. Sie nannten mich Sabrina und meinten, dass ich, wenn ich wollte, für immer bleiben dürfe. Es war eine gute Vorstellung.

Seine Farbe änderte sich schlagartig. Ein besorgtes Blau flimmerte um seinen Körper. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und seufzte.

Ayashi strich ihr sanft über die Haare. "Hey..." murmelte er beruhigend. "Was ist denn los?"

In den ersten Tagen ließen sie mich meist in Ruhe. Ich durfte das Haus nach Belieben durchstöbern. Tobias kam oft zu mir, um mit mir zu reden. Manchmal kam auch Simon hinzu. Er wirkte irgendwie immer etwas ängstlich. Nach einer halben Woche fand ich einen großen, schwarzen Flügel. Ich setzte mich daran und klimperte darauf herum, fasziniert, dass aus so einem großen Kasten Töne herauskommen konnten. Tobias kam herein und schmunzelte, als er mich sah. "Soll ich dir beibringen, wie man spielt, Sabrina?" fragte er. Ich nickte. "Ja, bitte." sagte ich leise.

Ich deutete mit meiner Hand auf meinen Mund und machte die gleiche Bewegung, die ich auch bei Ayani tat, als ich ihr erklären wollte, dass ich nicht reden konnte.

Ayashi wirkte zuerst bestürzt. "Du kannst nicht mehr sprechen?" fragte er. Elune quittierte mit einem Nicken. Ayashi umarmte seine Freundin. "Schade..." flüsterte er. "Aber warum?"

Tobias setzte sich neben mich auf den Hocker und begann, mir die Tonleitern und die Noten zu erklären.

Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste es nicht. Mir war aber klar, dass es etwas mit dem schwarzen Ort zu tun hat.

Ayashi strich seiner Freundin sanft über die Haare. "Mir ist es egal." murmelte er. "Ich liebe dich so oder so..." sagte er und küsste sie zärtlich auf die Lippen.

Es war kompliziert. Zuerst dachte ich, ich würde es nie verstehen. Doch nach und nach verstand ich doch. Dank Tobias, der sehr freundlich und geduldig mit mir war. Er war wie ein Bruder für mich, und ich hatte ihn gern.

Ich erwiderte den Kuss und lächelte hinein. So kannte und liebte ich meinen Freund.

Ayashi führte Elune zurück in ihre Hütte, schloss die Tür hinter sich und blieb dann bei ihr.

In den ersten Tagen war es mühsam, die Tasten zu finden und auseinander zu halten. Doch ich übte jeden Tag zwei Stunden, ich hatte ja nichts anderes zu tun, und so wurde ich besser. Nach zwei Wochen konnte ich bereits ein paar einfache Stücke spielen. Das freute mich und es freute auch meine neue Familie. Tobias hatte mir mittlerweile erzählt, dass seine Schwester fortgelaufen war. Ich empfand kein Mitleid mit ihr. Sollte sie doch fort sein. Sie hatte das alles hier aufgegeben... ich war glücklich hier und würde es hoffentlich bleiben.

Nicht sprechen zu können war wirklich schrecklich. Was aber noch viel schlimmer war; Ayani war verschwunden. Keiner wusste, wo sie war und ich machte mir gewaltige Sorgen um meine Schwester.

Ayashi tigerte im Dorf herum. Er war besorgt. Ayani war schon seit drei Wochen nicht mehr erschienen. Es sah ihr nicht ähnlich. Überhaupt nicht ähnlich. Irgend etwas musste ihr passiert sein.

Ich lag auf meinem Bett und las ein Buch. Es war eine billige Romanze, aber ich hatte wenigstens etwas zum Lesen. Tobias und Vater, mittlerweile durfte ich ihn so nennen, waren in den Wald gegangen. Sie hatten irgendetwas von Bestrafen gesagt. Ich wusste nicht, was sie damit meinten. Nach zehn Seiten stand ich auf und ging ins große Zimmer an den Flügel. Ich schlug meine Noten auf und begann zu spielen.

Ich saß auf einer Bank. Links neben mir saß Akana. Er war tief besorgt und traurig. Er hatte nichts darüber gesagt, aber ich wusste es trotzdem.

Ayashi gesellte sich zu den beiden. "Sie ist immer noch nicht aufgetaucht, oder?" fragte er besorgt. "Wo kann sie nur sein?" Er sah sich hektisch um. "Vielleicht haben die Menschen sie gefangen..." Er ging in die Richtung der Siedlung, wobei ihm nicht klar war, dass er eine Dummheit beging.